16.03.2017
Omer Klein Trio
Von Ulrich Stock
DIE ZEIT Nr. 12/2017, 16. März 2017 8 Kommentare
Wie wird Tel Aviv wohl sein? Ich war nie in Israel und bin auf Maschinenpistolen an jeder Ecke eingestellt, sehe dann aber tagelang keine. Dafür viele junge Erwachsene, gut aussehende Kinder einer globalen Immigration, die im Februar bei 25 Grad auf elektrogetriebenen Klapprädern durch die Stadt sausen, vorbei am Latte-macchiato-Spalier der bis auf den letzten Platz besetzten Straßencafés. Sportliche Männer im T-Shirt, schick angezogene Frauen, fröhlich an ihren Smartphones. Tel Aviv, das New York des Nahen Ostens, ein Berlin am Mittelmeerstrand, let’s party!
Sie feiern in einem Landstrich von 13 Millionen Einwohnern, von denen fünf Millionen rechtlos sind. Die englischsprachigen Ausgaben von Jerusalem Post und Ha’aretz diskutieren in ihren Spalten täglich über die "Apartheid", während israelische Siedler auf palästinensischem Grund Haus um Haus bauen.
Was soll man davon halten? Im Third Ear, dem führenden Plattenladen der Stadt, komme ich mit Yossi Acchoti ins Gespräch, dem Chef der Jazzabteilung. Der Endfünfziger, Sohn einer Polin und eines Ägypters, sagt: "Israel ist kein einfacher Ort. Man kann hier nicht in seiner eigenen Welt leben. Man kann sich nicht nicht dazu verhalten, selbst wenn man nicht darüber redet. Israelis gelten als rau und hart, das ist Teil der Realität, in der wir uns befinden."
Israelis rau und hart – wird das auch für den Pianisten Omer Klein gelten, der mich draußen am Zaun von Radio 88FM in der Leonardo da Vinci Street erwartet? Es ist ein Montagabend kurz vor zehn, drinnen wird er gleich seine neue Platte vorstellen, und ich darf mitkommen, um umstandslos einzutauchen in das lokale Musik- und Medienleben. Wir begegnen uns zum ersten Mal: hier der aufstrebende Jazzmusiker aus Netanja, Israel, vor seiner großen Deutschlandtour, die von Bayreuth bis in die Elbphilharmonie und nach Sylt führt, da der deutsche Reporter, der in den letzten paar Jahren so viele grandiose Jazzmusiker aus Israel gehört hat, dass er nun am Ort herausfinden will, was das Geheimnis ihrer Klasse ist. Avishai Cohen, der Trompeter. Omer Avital, der Bassist. Yonathan Avishai, der Pianist. Yaron Herman, der Pianist. Gilad Hekselman, der Gitarrist. Yotam Silberstein, der Gitarrist. Und es gibt noch etliche mehr. Alle binnen kurzer Zeit aus diesem jazzfernen Fleckchen Israel ins Licht getreten, umjubelt auf den Bühnen Europas. Wie ist das möglich?
Omer Klein begrüßt mich auf Englisch, und wir reden Englisch die ganzen nächsten Tage, nur einmal kriege ich ihn, der seit Jahren in Düsseldorf lebt, dazu, ins Deutsche zu wechseln. Da behauptet er, sein Deutsch tauge nur für Restaurants, allein im Bestellen sei er gut. Dann schwärmt er fehlerfrei von Schnitzel, Hühnerfrikassee und Königsberger Klopsen, "mit Kapern", vom Altbier und vom Himmel & Ähd in Düsseldorf, dem besten deutschen Restaurant, das er kenne.
Aber so weit sind wir noch nicht. Ich folge ihm durch die Pforte des gut gesicherten Radiosenders über den Parkplatz. Wir steigen enge, verwinkelte Treppen zum Studio hinauf. Er frotzelt über die schäbigen Räumlichkeiten des israelischen Staatsrundfunks; beim WDR in Köln, wo er ein und aus geht, scheint es besser auszusehen. Ist die Rundfunkgebühr doch zu etwas gut!
Als wir das holzvertäfelte Acht-Quadratmeter-Stübchen erreichen, laufen gerade noch ein paar Takte Alice Coltrane. Kann kein schlechter Sender sein. Dann ist der Moderator Ronny Wertheimer dran mit seiner Stunde Smart in the evening, die aufgeweckten Zeitgenossen gewidmet ist. Heute dem Omer Klein.
Der Mittdreißiger trägt eine große Hornbrille, einen fleckigen Backenbart, eine graue Lederjacke, bunt gepunktete Socken und jetzt auch noch einen Kopfhörer. Seine Finger schimmern hellweiß, als wären sie aus Wachs; aber vielleicht kommt das vom Neonlicht im Studio.
Ich lausche aufmerksam, ohne ein Wort zu verstehen, denn der Moderator und sein Gast unterhalten sich auf Hebräisch, der Landessprache, die man in Tel Aviv leicht vergisst, weil jeder, den man etwas fragt, Englisch kann und jedes Straßenschild außer auf Hebräisch und Arabisch auch auf Englisch beschriftet ist. Die Stadt macht es Besuchern wirklich leicht.
Während Omer Klein sein Leben erzählt, hält er sein Smartphone in die Höhe. Er filmt den Moderator an den Schiebereglern und sich, hin und her schaltend zwischen Front- und Rückkamera. "Live-Streaming bei Facebook", erklärt er mir in einer Gesprächspause, während ein Stück von ihm über den Sender geht. "Gibt es hier eine Steckdose? Mein Akku ist gleich alle."
Der Pianist als sozialer Netzwerker: "Hohe Reaktionsfreudigkeit bei Nachrichten" verspricht seine Facebook-Seite; er ist ein Musiker, der alle Kanäle nutzt, seine Kunst unter die Leute zu bringen. Deshalb darf ich ihn begleiten, zum Radio und zu drei Konzerten seines Trios.
Dass eine international erfolgreiche Jazzband aus Israel in Israel spielt, geschieht eher selten. Israel ist klein, es gibt wenige Clubs, und vor allem gibt es kein benachbartes Ausland, in das man eine Tour verlängern könnte. Ringsherum herrscht Feindschaft oder Krieg; gewaltfreie Koexistenz ist noch das Beste. Jeder Grenzübertritt ist ein Problem. Das nächsterreichbare Europa wäre Zypern. Aber zum Jazz nach Zypern?
Wie einfach haben es deutsche Musiker im Vergleich. Sie steuern ihren Tourbus von Köln nach Paris, nach Brüssel, nach Prag, nach Kopenhagen und müssen unterwegs nicht einmal ihren Ausweis vorzeigen.
"Man kann nicht in Israel bleiben und im Jazz Karriere machen", sagt Omer Klein. Wer etwas werden wolle, müsse das Land verlassen. Und dann gehe man eben nicht nach Europa, sondern dahin, wo der Jazz zu Hause sei – nach New York.
"Wir schaffen es in New York, weil wir es schaffen müssen.
Ich mag das Bild vom hungernden Künstler nicht sonderlich, aber es stimmt schon." New York sei voll der Zumutungen und der erbarmungslosen Konkurrenz.
Welch eine Ironie: Israel besteht aus Immigranten, die von überallher kommen. Ihre Kulturen mischen sich wild quer durch die Familien. Wer sich aber als Musiker der Mischkultur Jazz widmen will, muss seinerseits emigrieren.
Am Tag nach dem Radiointerview spielt Omer Klein mit seinem Trio im Zappa, außerhalb des Tel Aviver Zentrums. Der geräumige Club liegt zwischen Hochhäusern versteckt in einem Innenhof. Man fühlt sich mit all den Fußgängerbrücken und kleinen Teichen wie in einem Architekturmodell. Hier haben etliche Start-ups ihre Büros.
Abends um sechs komme ich durch den Hintereingang ins Zappa, das Personal rückt gerade die Tische für den Abend zurecht. Es wird erst gegessen und dann gehört, nach dem Vorbild des legendären Blue Note in New York. Vor zehn geht es nicht los. Die Musiker beenden den Soundcheck – die Gelegenheit, den Bassisten Haggai Cohen-Milo und den Schlagzeuger Amir Bresler kennenzulernen.
Hinter der Bühne schwirren Insekten durch die Umkleide, im Februar! Die Musiker zerklatschen die Mücken auf ihren Armen. Die Kaffeemaschine ist außer Betrieb, und es erscheint auch niemand vom Personal, um mal nach dem Rechten zu schauen. "Das ist der Unterschied zu Deutschland", sagt Omer Klein. "Wenn du da irgendwo ankommst, wartet immer jemand und etwas auf dich. Die Veranstalter fragen sich: 'Was könnte die Musiker jetzt erfreuen?' In Israel hat man keinen Plan."
Seine Mitmusiker stimmen zu. In Deutschland spielen sie am liebsten. "Deutschland hat uns verdorben!" Ist das ein Mehr an Gastfreundschaft oder bessere Planung? "Geplante Gastfreundschaft" nennen es die Musiker, und sie freuen sich sehr über die Formulierung. In Italien und Spanien sei dafür das Essen besser.
Wenn sie auf Tour sind, nehmen sie nur den Kontrabass mit. Haggai Cohen-Milo spielt ein Instrument mit abnehmbaren Hals, "es passt sogar in den ICE und braucht nicht einmal ein Ticket". Deutschland, ein Jazzparadies! Bald will der Bassist, der in Brooklyn lebt, nach Berlin umziehen.
Im Zappa-Restaurant läuft Musik von Cat Stevens und Bob Marley. An einem Tisch sitzt das Ehepaar Goldstein. Ofra Goldstein ist Professorin am Institut für Ostasiatische Studien der Universität von Tel Aviv, Boaz Goldstein VW-Händler in Ra’anana. Was für eine Kombination! "Man muss ja mit irgendwas zur Uni fahren", meint er.
Die beiden sind ausgemachte Jazzfans, die im Ausland schon viele Konzerte gesehen haben. Über das ausverkaufte Haus in Tel Aviv an diesem Dienstagabend zu später Stunde staunen sie. Dann kommt das Trio und legt los. Sein Spiel setzt sich – analytisch gesprochen – aus drei Komponenten zusammen: Verhangenheit, balladeske Kraft, Groove. Omer Klein ist der Boss und Namensgeber, nur er komponiert, aber auf der Bühne sind sie gleichberechtigt. Faszinierend sind die gegenseitige Einfühlung, der Sinn für Nuancen, das Aufgreifen melodischer Partikel im Hin und Her zwischen Klavier und Bass, Bass und Schlagzeug, Schlagzeug und Klavier, das Unisono komplexer rhythmischer Passagen und im Kontrast dazu die inszenierten Aussetzer und falschen Schlüsse. Die drei ziehen verdammt viele Register. Dabei ist ihre Musik in jedem Moment transparent. Man weiß immer, wo man ist, aber nie, wohin es geht.
Sleepwalkers heißt das neue, zweite Album des Trios, von Omer Klein konkret bezogen auf politische Umstände. Wie konnte das mit Trump passieren, und sollten wir jetzt nicht mal aufwachen? Ich würde es tiefer hängen: Traumwandlerisch wirken diese drei in ihrer nachgerade vegetativen Interaktion.
Jung und Alt im Publikum sind aus dem Häuschen, auch dem Ehepaar Goldstein gefällt es. Etliche Besucher stehen hinterher um CDs und Autogramme an.
Der Moderator Ronny Wertheimer hatte nach der Sendung im Radio noch erzählt, dass er eigentlich im Pop zu Hause sei, erst letzthin habe er sich dem Jazz wieder zugewandt, "a second visit", angestoßen durch die Begeisterung seiner halbwüchsigen Söhne. Der eine habe die Gitarre gegen ein Saxofon eingetauscht, der andere sei von der Bassgitarre zum Kontrabass gewechselt – um Jazz zu spielen! Warum?
"Der israelische Pop ist gespalten. Es gibt die westliche Strömung und die orientalische. Im Jazz geht beides zusammen. Und man kann sich besser ausdrücken, es ist nicht so oberflächlich."
Ist der Jazz in Israel also Teil einer Jugendbewegung? Am Mittwoch fährt das Trio nach Kirjat Tiw’on, einer locker in den Hügeln gelegenen Stadt bei Nazareth, um dort am Konservatorium eine Meisterklasse zu geben. Die 14- bis 18-Jährigen des Jazzensembles, die mit zwei Saxofonen, Klavier, Bass und Schlagzeug vorspielen, versuchen, Cornbread des amerikanischen Trompeters Lee Morgan in Schwung zu bringen, aber das 50 Jahre alte Stück will einfach nicht swingen.
Die Musiker empfehlen dem ratlosen Nachwuchs, sich mehr der Geschichte des Jazz zu widmen. Mehr zu hören auch. Die Originale zu hören. Später, bei einer Portion Hummus, sind die drei weniger diplomatisch: "Wo ist die Leidenschaft bei dieser Band?", fragen sie. "Sie spielen nur die Hülle. Es fehlt ihnen an Wissen. So wird das nichts."
Die drei waren – wie fast alle Jazzmusiker aus Israel – als Jugendliche auf der Thelma Yellin, einer Musikschule am Rande von Tel Aviv. Amir Bresler, der Schlagzeuger, erzählt von Unterrichtsstunden, in denen sie nur Platten gehört hätten, um die Stilistik der großen Amerikaner sicher zu erkennen. Hank Mobley, Charlie Parker, Horace Silver, Lester Young. Oder der Lehrer habe morgens verkündet: "Heute hören wir die besten Pianisten der fünfziger Jahre."
Manchmal sei während einer solchen Stunde die Tür aufgegangen, und ein Schüler habe den Kopf hineingesteckt auf der Suche nach seiner Klasse. Der habe nicht gehen dürfen, ohne die Frage zu beantworten: "Wer ist der Schlagzeuger auf dieser Aufnahme?" Erwartungsfrohe Blicke der Klasse zur Tür: Wird der Unglückliche die Bewährungsprobe bestehen? "Tony Williams?" – "Okay!"
Zum Schuljahresende hätten sie Hörtests bestehen müssen. Wer spielt hier Piano, Trompete, Saxofon? Bresler glaubt, dass dieses retrospektive Analysieren dem eigenen Musizieren hilft. "Man muss die Geschichte kennen." Das wäre auch ihre Kritik am deutschen und europäischen Jazz: Viele Musiker hätten sich vom amerikanischen Vorbild gelöst, ohne mit ihm wirklich vertraut zu sein.
Abends spielt das Omer Klein Trio in der ausverkauften Aula ein berauschendes Konzert. Der Saxofonist Scharon Goldrat, 14, und der Schlagzeuger Omri Hill, 16, sind von den Socken. "Sagenhaft", sagen sie. "Die haben so viel Spaß auf der Bühne." Diese Schüler werden ihre Meisterklasse in Erinnerung behalten.
Am Donnerstag tritt das Omer Klein Trio in Herzlia auf, einem wohlhabenden Vorort von Tel Aviv, benannt nach Theodor Herzl, dem Begründer des modernen Zionismus. Hier spielen sie im 8th Star, einem Jugendzentrum mit großem Hörsaal. Steil steigen die Sitzreihen nach oben auf, unten wartet schwarz die Bühne. Viele Musikschüler kommen zum Konzert. Nach anderthalb Stunden bleiben sie wie festgeschraubt sitzen, als zwei Stühle auf die Bühne gestellt werden und ein Mitarbeiter des Hauses mit Omer Klein eine Talkshow improvisiert.
Der Pianist erzählt von seiner Jugend in Netanja, seinen Jahren in New York, wie er aus Liebe zu einer Frau nach Deutschland kam. Und es fallen jede Menge Namen, Kurt Weill, Bob Dylan, Gershwin, die Beatles, Stevie Wonder, Antônio Carlos Jobim, Chico Buarque, aber auch Mozart, Haydn, Beethoven, Bartók, Brahms und Schostakowitsch. Klein ist ein Musiker, der seine Inspiration von überallher nimmt. Er findet diesen Eklektizismus sehr israelisch. In einem Land der Mischungen kommt es immer auf die Mischung an.
Zum Ende der Woche treffe ich Yossi Acchoti noch einmal, den Mann, der 1985 Israels ersten Jazzplattenladen eröffnete: "Ich war auch einmal so ein 16-Jähriger, der angefangen hat, ein Instrument zu spielen." Er freut sich über den Erfolg der israelischen Jazzmusiker und über die Begeisterung, die sie bei den Jungen auslösen. Ihre starke Ausrichtung am amerikanischen Vorbild sieht er kritisch: "Haben sie ihre eigene Stimme gefunden, leisten sie ihren eigenen Beitrag zum Jazz?" Er macht eine Pause, um seine Forderung zu prüfen. Dann sagt er: "Sie suchen noch." Finde ich sein Urteil rau und hart? Ist landestypisch.